Toxikologe: „Die Aussage­kraft der Studien ist schwach“

Prof. Harald Krug, emeritierter Professor für Umwelttoxikologie, im Interview über die Einstufung von Titandioxid.

Am 18. Februar 2020 hat die EU-Kommission die 14. Anpassung der Verordnung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt (ATP) erlassen. Die Einstufung und die damit verbundenen neuen Kennzeichnungsvorgaben verunsichern Hersteller, Händler, verarbeitende Betriebe und Verbraucher gleichermaßen. Wer aber die Hintergründe und Fakten kennt, kann unbesorgt sein, meint Prof. Harald Krug.

Wie bewerten Sie den Schritt der EU, Titandioxid als „möglicherweise krebserregend beim Einatmen“ einzustufen?

Ich halte den Schritt für falsch – und zwar aus drei Gründen.

Erstens hat die Mehrheit der EU-Staaten in einer Expertenanhörung Mitte September vergangenen Jahres gegen eine Einstufung von Titandioxid in diese Kategorie gestimmt. Darüber hat sich die EU mit dem Erlass der Verordnung hinweggesetzt.

Zweitens hat die für die Einstufung zuständige europäische Chemikalienbehörde ECHA mit der Entscheidung gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen. Denn um einen Stoff einzustufen, sind Gefährdung und Exposition maßgeblich. Es ist also ganz entscheidend, in welchem Umfang ein Anwender dem Stoff ausgesetzt ist. Dies hat die ECHA bei ihrer Entscheidungsfindung gar nicht berücksichtigt.

Und drittens sind die zur Einstufung herangezogenen Studienergebnisse wenig aussagekräftig, weil Studien unter diesen Bedingungen heute nicht mehr zulässig wären.

Wie meinen Sie das?

Die Studien stammen aus den 1980er und 1990er Jahren und wurden unter Bedingungen durchgeführt, die nach aktuell geltenden Tierschutzkriterien gar nicht mehr erlaubt wären. Beispielsweise war die Titandioxid-Belastung, der die Ratten in einer der Schlüsselstudien ausgesetzt waren, viel zu hoch. Die Tiere wurden ein Leben lang regelrecht in Staub gebadet. Solche hohen Staubkonzentrationen lösen bei Ratten Krebs aus – und zwar unabhängig vom Material. Aber: Mäuse und Hamster entwickelten unter den gleichen Bedingungen eben keine Tumoren. Und wer sagt, dass die Ratte den Menschen besser repräsentiert als die Maus? Es hängt also davon ab, welche Studien ich für meine Entscheidung heranziehe.

Auf Basis welcher Studien und Argumente hat die ECHA letztlich eine Einstufung empfohlen?

In ihrer Empfehlung stützt sich die ECHA auf den Antrag der französischen Behörde für Lebensmittelsicherheit ANSES. Die hatte im Jahr 2017 ein Dossier eingereicht, in dem sie nachzuweisen versucht, dass Titandioxid nach Exposition von Versuchstieren zu Tumoren führt. Rund 200 Studien werden darin zitiert. Es würde hier zu weit führen, auf alle Studien einzugehen, die in dem ANSES-Antrag aufgeführt werden. Aber ich bleibe dabei: Die Aussagekraft der Studien, auf die sich ANSES und ECHA berufen, ist schwach und toxikologisch unspezifisch. Sie genügen auf keinen Fall für eine „spezifische Einordnung einer Substanz“.

„Jede Art von Staubpartikel führt, lange und in hohen Dosen eingeatmet, in der Lunge zu Entzündungen.“

Wie sollte eine Studie beschaffen sein, die Aussagen hinsichtlich des Risikos zulässt?

Material und biologische Modelle – egal ob Zellkulturen oder Tiermodell – sollten sauber charakterisiert und die Bedingungen so realistisch wie möglich sein. Das sind jedoch Studien im Hochdosisbereich nicht. Sie sind allenfalls gut, um erste Anhaltspunkte für ein Gefährdungspotenzial zu gewinnen. Aber sie geben keinerlei Aufschluss über toxische Mechanismen oder gar über ein mögliches Risiko, das von einer bestimmten Substanz ausgeht. Denn jede Art von Staubpartikel führt, lange und in hohen Dosen eingeatmet, in der Lunge zu Entzündungen, bei dauerhafter Exposition zu chronischen Entzündungen und schließlich zu Tumoren. Das ist seit den 1990er Jahren Lehrbuchwissen.

Wichtig wäre zu erkunden, ab welcher Dosis eine Gesundheitsgefährdung vorliegt. Also diejenige Konzentration zu bestimmen, ab der sich Zellen verändern. Dann lassen sich klare Empfehlungen, etwa für einen Staubgrenzwert am Arbeitsplatz geben. Von daher plädiere ich wie die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin dafür, Menschen, die mit Stäuben zu tun haben, über einen maximal zulässigen Staubgrenzwert zu schützen.

Das heißt, Titandioxid ist aus Ihrer Sicht nicht gefährlicher als andere Stäube auch?

Titandioxid ist unlöslich und genauso gefährlich oder ungefährlich wie Saharastaub oder Feldstaub. Titandioxidpartikel haben keinerlei intrinsische Toxizität, das heißt, sie wirken nicht toxisch wie zum Beispiel Zinkstaub. Beim Schweißen von Zink werden Zinkoxidpartikel freigesetzt, die beim Einatmen Zinkfieber auslösen können. Da Titandioxid aber unlöslich ist, kann dies hier nicht passieren.

„Verbraucher sollten sich so gut wie möglich schützen – unabhängig davon, um welche Art von Staub es sich handelt.“

Was würden Sie verunsicherten Anwendern und Verbrauchern raten, wenn sie nach weißer Farbe verlangen? 

Ich würde ihnen jederzeit Farben mit Titanweiß empfehlen. Auch wenn auf der Verpackung die Kennzeichnung „möglicherweise krebserregend nach Einatmen“ steht. Beim Malen und Lackieren atmet man ja keine Titandioxidstäube ein. Von daher ist die Kennzeichnung bei Farben und Lacken irreführend. Ich bin froh, dass es Titanweiß gibt. Denn das Pigment ist eines der sichersten Farbmittel, die wir auf dem Markt haben.

Nichtsdestotrotz sollte man generell das Einatmen von Stäuben vermeiden, und Verbraucher sollten sich so gut wie möglich davor schützen – unabhängig davon, um welche Art von Staub es sich handelt. Aber Produkte mit Titandioxid muss man deswegen nicht meiden.

Wenn jemand Wände, die mit titandioxidhaltiger Farbe gestrichen wurden, mal abschleift oder anderweitig bearbeitet, reicht ein Mundschutz. Klar ist: Das im Staub enthaltene Titandioxid würde niemals reichen, um den von der ANSES befürchteten Effekt auszulösen.

Würden Sie selbst titandioxidhaltige Farbe verwenden?

Ja, ganz klar. Ich bin gerade dabei, eine neue Wohnung herzurichten, und meine Wahl ist Titanweiß!

Prof. Harald Krug, Toxikologe

Prof. Dr. Harald F. Krug

Gründer und Shareholder der NanoCASE GmbH, eines Spin-off der Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt); emeritierter Professor für Umwelttoxikologie der Universität Bern und pensioniertes Mitglied der Geschäftsleitung der Empa sowie ehemaliger Leiter des Departments „Materials meet Life“ der Empa.