Im November 2022 hatte das Gericht der Europäischen Union (EuG) entschieden, dass die harmonisierte Einstufung des Weißpigments Titandioxid als „vermutlich karzinogen beim Einatmen“ und die damit verbundene Kennzeichnungspflicht für den Stoff sowie pulverförmige, feste und flüssige Gemische rechtswidrig ist. Dagegen hatten unter anderem die EU-Kommission und Frankreich Rechtsmittel eingelegt, sodass der Fall nun vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt wird.
Im Gerichtsverfahren hat nun die Generalanwältin ihre Schlussanträge vorgelegt. Sie schlägt vor, das Urteil des EuG aufzuheben und die Sache zur Entscheidung zurückzuverweisen. Damit folgt sie in großen Teilen den Argumenten der Kommission und Frankreich. Die Schlussanträge sind eine Empfehlung und für das Gericht nicht bindend.
Dass die Generalanwältin so einseitig den Argumenten der Kommission und Frankreichs folgt, überrascht. In dem Verfahren geht es nicht nur um die Einstufung von Titandioxid, der Fall ist komplexer. Das Urteil bildet die Grundlage dafür, wie in Zukunft mit pulverförmigen Stoffen umgegangen wird und wer darüber entscheidet, wie wissenschaftliche Studien bewertet werden.
Ein Teil des Verfahrens drehte sich um die Frage, was man unter der „intrinsischen Eigenschaft“ eines Stoffs versteht. Während das EuG nah an der Wortbedeutung blieb, sieht die Generalanwältin eine breitere Auslegung als angemessen an, die sich mehr daran orientiert, wie die Ziele der CLP-Verordnung erreicht werden können. Juristisch ist dies diskussionswürdig, da es die Gefahr enthält, dass sich die Exekutivorgane, wie die Kommission, durch eine zu dehnbare Auslegung von Begriffen über die Vorgaben des Gesetzgebers, also Rat und Parlament, hinwegsetzt.
Auch über Ergebnisse wissenschaftlicher Studien kann diskutiert werden. Sie sind oft nicht selbsterklärend, sondern müssen im komplexen Zusammenhang mit Aufbau und Durchführung der Studien betrachtet und bewertet werden. Selbst unter wissenschaftlichen Experten ist es normal, die Aussagekraft solcher Studien kontrovers zu diskutieren. In ihren Schlussanträgen schreibt die Generalanwältin nun die endgültige Entscheidung, welche Schlüsse aus einer wissenschaftlichen Studie gezogen werden, allein der Kommission zu. Solche Entscheidungen könnten damit kaum noch erfolgreich angefochten werden, Gerichten wie dem EuG oder dem EuGH würde damit die Kompetenz zu überprüfen, ob die Entscheidung rechtens ist, stark eingeschränkt. Dies wäre ein Freibrief für die Kommission, die Bewertung von Studien so zu gestalten, dass sie zu den politischen Zielen passt. Wenn keine belastbaren Studien vorliegen, könnten wissenschaftlich fragwürdige oder nicht eindeutige Studien herangezogen werden. Am Ende hätte die Verwaltung immer Recht – obwohl auch einer Verwaltung Fehler unterlaufen können.
Überspitzt könnte man sagen, dass die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative für das Einstufungsverfahren beschädigt würde, wenn der EuGH den Schlussanträgen folgen würde. Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH seine Entscheidung sorgfältig abwägt, wenn voraussichtlich im Sommer das Urteil verkündet wird.