Einstufung von Titandioxid – Aufklärung und Trans­parenz sind erforderlich

Harmlos oder krebserzeugend? Einfach nur Staub oder Gefahrstoff? An Titandioxid scheiden sich die Geister. Verbraucher möchten aber Transparenz. Prof. Dr. Ralf Stahlmann und Anna Sonnenburg bringen Licht ins Dickicht der Verordnungen und Begriffe.

Geht von Titandioxid eine Gefahr für Verbraucher aus?

Ralf Stahlmann: Nach unserer Einschätzung besteht für Verbraucher kein akutes gesundheitliches Risiko, wenn sie titandioxidhaltige Produkte verwenden.

Warum müssen dann Behälter mit Titandioxidpulver und Pulverprodukten, die mindestens ein Prozent Titandioxid in Partikelform enthalten, künftig den Warnhinweis „Kann bei Einatmen vermutlich Krebs erzeugen“ tragen?

Ralf Stahlmann: Dieses Piktogramm weist auf eine mögliche Gefährdung hin. Die Einstufung als vermutlich krebserzeugend bezieht sich auf das Einatmen von Titandioxidstaub. Die EU stützte sich bei ihrer Entscheidung auf Studien mit Ratten. Diese waren extremen Bedingungen ausgesetzt – also sehr hohen Titandioxidstaub-Konzentrationen, und das ein Leben lang.

Anna Sonnenburg: Man hat in Studien mit wiederholter inhalativer Exposition zeigen können, dass Ratten im Vergleich mit anderen Tierarten sensibler reagieren. Auch in epidemiologischen Studien mit Arbeitern, die tagtäglich mit Titandioxidstaub zu tun haben, konnte kein erhöhtes Krebsrisiko nachgewiesen werden.

Ist dann die Einstufung der EU nicht übertrieben?

Ralf Stahlmann: Sie ist korrekt im Sinne der CLP-Verordnung, die unter anderem regelt, wie Stoffe und Gemische auf dem Etikett zu kennzeichnen sind. Man muss diese Kennzeichnung richtig einordnen. Hier handelt es sich um eine Gefahrenbewertung mit vorbeugendem Charakter.

Anna Sonnenburg: Das Gesetz verlangt keine Abschätzungen zur Risikobewertung, wenn Menschen mit der Substanz in Kontakt kommen. Was aber nötig wäre, um das Gesundheitsrisiko tatsächlich einschätzen zu können.

Was ist der Unterschied zwischen Gefahr und Risiko?

Anna Sonnenburg: Das folgende Beispiel macht den Unterschied klar: In freier Wildbahn geht von einem Löwen zweifellos eine akute Gefahr aus. Dennoch können wir Löwen im Zoo besuchen, da das Risiko, von einem Löwen angegriffen zu werden, dort sehr gering ist. Und für die Tierpfleger, die öfter und näher mit den Tieren umgehen, gibt es Schutzvorrichtungen und Verhaltensregeln, um das Risiko zu minimieren. Das ist deren Arbeitsschutz.

Ralf Stahlmann: Genauso gibt es gefährliche Stoffe, die sicher gehandhabt werden können, etwa im Bereich der chemischen Industrie. Die Arbeit damit ist sicher, wenn die Stoffe beispielsweise in geschlossenen Systemen gehalten werden und keine Exposition der Arbeiter stattfindet. Ansonsten gibt es Arbeitsschutzvorschriften, die jederzeit eine sichere Handhabung gewährleisten.

Anna Sonnenburg: So gesehen geht auch von Titandioxid in verbrauchernahen Produkten kein Gesundheitsrisiko aus, weil das Pigment bei allen Anwendungen, ob im Kunststoff oder in Farben und Lacken, immer fest in eine Bindemittelmatrix eingebunden ist.

„Eine Aussage über die Gefährdung reicht allein nicht für eine robuste Bewertung des Gesundheitsrisikos eines chemischen Stoffes.“

Wie kann aus einer Gefahr ein Risiko entstehen?

Anna Sonnenburg: Nur dann, wenn jemand Titandioxidstäuben länger und in höheren Konzentrationen ausgesetzt wäre. Das gilt für alle biobeständigen Stäube.

Ralf Stahlmann: Eine Aussage über die Gefährdung reicht allein nicht für eine robuste Bewertung des Gesundheitsrisikos eines chemischen Stoffes. Wollte man die Gesundheitsrisiken bestimmen, die von diesen Stäuben oder anderen Verbindungen ausgehen, müsste man detailliert die Exposition bestimmen und eine Risikoabschätzung unter Berücksichtigung der quantitativen Verhältnisse durchführen.

Anna Sonnenburg: Genau dies hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, bei Titandioxid gemacht. Sie hatte dabei die orale Aufnahme im Blick und hat nicht die Aufnahme über die Lunge untersucht. Die EFSA hat zum einen Studien ausgewertet, bei denen unterschiedliche Mengen von Titandioxid an Tiere verfüttert wurden. Zum anderen hat die Behörde eine Expositionsabschätzung anhand von Daten zur Verwendung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff und analytischen Messungen vorgenommen. Ihre Schlussfolgerung: Die orale Einnahme von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff ist gesundheitlich unbedenklich.

Welcher Unterschied besteht darin, ob ich etwas einnehme oder einatme?

Anna Sonnenburg: Unlösliche Stoffe wie Titandioxid kann der Körper über den Darm ausscheiden. Die menschliche Lunge hat mehrere Schutzmechanismen: So können Fremdstoffe beispielsweise mithilfe der Flimmerhärchen aus der Lunge transportiert und abgehustet werden. Bei zu hoher und dauernder Belastung bricht diese Schutzfunktion jedoch zusammen; es kommt zu einer Überlastung. Deshalb müssen sich Menschen, die mit Stäuben zu tun haben, entsprechend schützen.  

Ralf Stahlmann: Das gilt übrigens auch für andere Arten von Staub, also zum Beispiel Sandstaub, Tonerstaub oder Dieselruß. Gesundheitlich bedenklich wird es immer dann, wenn die Lunge ständig Staub in hohen Konzentrationen ausgesetzt ist.

Die EU-Expertenkommission hat bei ihrer Bewertung darauf hingewiesen, dassdie kanzerogene Wirkung von Titandioxid im Tierversuch nur bei einer inhalativen Überlastungsexposition auftritt. Die dafür nötige hohe Luftkonzentration von Titandioxidpartikeln liegt deutlich über den maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen. Auch bei der privaten Anwendung von Wandfarben oder Sonnenschutzmitteln, in denen die Titandioxidpartikel in der flüssigen Phase gebunden sind, erfolgt eine solche Exposition nicht.

Wann kommt man überhaupt mit Titandioxidstaub in Berührung?

Ralf Stahlmann: Denkbar wäre, wenn Farbe trocknet und abblättert oder auch, wenn titanweißhaltige Tapeten entfernt werden. Aber sicherlich nicht in Konzentrationen und unter Bedingungen wie in besagtem Tierversuch, die letztlich zur Einstufung führten. Beim Malern und Lackieren hingegen liegen, wie bereits erwähnt, keine Stäube vor.

Anna Sonnenburg: In Berührung mit Titandioxidpulver kommen auch Menschen in der Titandioxidherstellung. Daher gelten hier entsprechende Arbeitsschutzmaßnahmen. Der MAK-Wert muss unbedingt eingehalten werden. Darunter versteht man die maximale Arbeitsplatzkonzentration, der sich ein Angestellter aussetzen darf, ohne gesundheitliche Einschränkungen zu erleiden. Die dafür zuständige Kommission hat Titandioxid bei den granulären biobeständigen Stäuben von geringer Toxizität eingeordnet.

Wie lautet Ihr Resümee?

Ralf Stahlmann: Die EFSA hat Titandioxid nach sorgfältiger Prüfung bei oraler Exposition als gesundheitlich nicht bedenklich eingestuft. Die aktuell verordnete Kennzeichnungspflicht bezieht sich nur auf die inhalative Exposition. Sowohl die EFSA als auch der für die Einstufung zuständige EU-Ausschuss kamen zu dem Schluss, dass eine direkte genotoxische Wirkung von Titandioxid aus den vorliegenden Daten nicht ableitbar ist. Trotzdem besteht durchaus noch weiterer Forschungsbedarf, um die Situation besser beurteilen zu können.

Anna Sonnenburg: Auch konnte keine Studie ein erhöhtes Krebsrisiko für den Menschen am Arbeitsplatz nachweisen. Die Einstufung betrachtet eine mögliche Gefahr und berücksichtigt nicht, wie und ob man überhaupt mit dem Stoff in Kontakt kommt. Und das muss klarer kommuniziert werden. Dringend notwendig ist jetzt eine rational basierte Kommunikation der Situation. Hier kommt auch den Medien eine verantwortungsvolle Aufgabe zu.

Die Expert*innen

Prof. Dr. Ralf Stahlmann,
ehemaliger Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Charité Universitätsmedizin

Anna Sonnenburg,
Doktorandin am Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Charité Universitätsmedizin